Mittwoch, 18. Mai 2022

Der Auftrag

Bist Du schonmal auf eine Ameise draufgetreten? Ganz bestimmt! Auch mal auf ganz viele? Vielleicht hast Du Dich ja mal auf den kompletten Abschnitt eines Ameisenzuges draufgesetzt, und es danach nur dadurch bemerkt, weil die nachkommenden Ameisen einfach ungerührt weitergezogen sind,- zielstrebig ihre Mission erfüllend? Und, hat es Dir leid getan? Nicht besonders, oder? Na ja, vielleicht ein bisschen... Aber ganz bestimmt nicht so, dass Dich Dein schlechtes Gewissen zerfressen hätte, und Du fortan an nichts anderes mehr hättest denken können... Und recht hast Du! Erstens war es ja keine Absicht, zweitens schien es den anderen Ameisen auch so ziemlich egal zu sein, und drittens gibt es ja schließlich, weiß Gott, genug Ameisen!
 
Eine andere Frage: Kennst Du ein One-Hit-Wonder? Im Bereich der bildenden Kunst kommt so etwas ja so gut wie gar nicht vor, aber im Bereich der Musik oder Literatur..? Fällt Dir ein Lied ein, von dessen Komponisten/Interpreten Dir die traurige Geschichte in Erinnerung geblieben ist, dass er damit zwar die ganze Welt kurz zum Brodeln gebracht hat, aber danach - bis zu seinem bitteren Ende - außerstande war, auch nur einem einzigen Menschen noch eine müde Fußzuckung zu entlocken?
 
Und hast Du von diesem Künstler gedacht, dass er ein Versager gewesen sei, der seinen Frust wahrscheinlich nur noch in Alkohol hat ertränken können, und froh sein müsse das Zeitliche gesegnet zu haben, um seiner Schmach und Schande endlich für immer entgehen zu können? Ich bin mir sicher, dass er Dir tief in seinem Inneren - auch wenn er das vielleicht zu Lebzeiten nie geschafft hätte - absolut beipflichten würde...
 
Aber Ihr habt beide Unrecht!! Er muß sich nämlich für gar nichts schämen... Er hat seine Pflicht als Künstler getan! Wäre zwar natürlich schön gewesen, wenn er die charakterliche Stärke, die Intelligenz, das Durchhaltevermögen, die Nicht-Korrumpierbarkeit / Korrumpierbarkeit und den Willen besessen hätte ein beeindruckendes Gesamtwerk zu schaffen, und damit immer wieder die Massen zu berauschen,- nur insgesamt betrachtet ist das wenig wichtig...
 
Wenn man nämlich alle erhaltene oder zumindest dokumentierte Kunst von allen Künstlern zu allen Zeiten zusammen betrachtet, fällt das Nachwirken eines einzelnen starken Kunstwerkes gegenüber einem ausführlichen Gesamtwerk - mit dessen Höhen und Tiefen, und der Reduzierbarkeit auf einige, wenige Kernaussagen - nicht unbedingt extrem zurück, ganz besonders nicht seit dem letzten Jahrhundert. Die One/Two/Three-Hit-Wonder-Künstler bilden jedenfalls eine Untergruppe der Alle-Kunst-Gesamtheit und werden vielleicht ein immer wichtigerer Bestandteil derselben werden. Die größte Untergruppe sind aber nach wie vor die Künstler, die es noch zu Lebzeiten geschafft haben dauerhaft wirksam zu sein. Dann gehören als dritte Gruppe noch die Künstler dazu, deren bis dahin gänzlich verkanntes Lebenswerk erst nach ihrem Ableben die volle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich lenken kann. Und die vierte und schließlich letzte Gruppe sind die Künstler, die nach ihrem Tod - sozusagen aus dem Grab heraus - mit einem einzigen Postmortal-One-Hit-Wonder die Menschheit berühren (vielleicht auch nur noch anonym, weil keiner mehr rekonstruieren kann, wer dieses wundervolle Lied komponiert, dieses unglaubliche Bild gemalt haben könnte).
 
Diese vier Gruppen jedenfalls haben alle ihren Sold erfüllt...
 
Alle anderen Künstler haben versagt!
 
Jetzt darf man natürlich nicht so gemein sein.., und selbstverständlich kann man versuchen, diese kalte Realität abzumildern, indem man einräumt, dass die Verschmähten zwar künstlerisch nichts erreicht, aber dafür sich selbst sehr viel gegeben haben, indem sie durch Bildermalen, Gitarreschrammen und Tagebuchschreiben zumindest Kreativität und Lebenswillen gezeigt haben,- nur lasse ich diesen Punkt nicht gelten:
 
Sie haben versagt.. Sie haben keinen wirklichen Beitrag geleistet.. Vielleicht weil sie tatsächlich scheußliche Bilder gemalt, unerträgliche Lieder komponiert und naive Geschichten geschrieben haben... Vielleicht haben sie aber auch faszinierende Bilder geschaffen, ergreifende Lieder erdacht und (hätten diese denn Leser gefunden) unvergessliche Geschichten geschrieben, und einfach nur Zeit ihres Lebens zu wenig Ehrgeiz, zu wenig Geschicklichkeit, zu wenig Ellenbogengebaren an den Tag gelegt um ihr Werk ihren Mitmenschen zugänglich zu machen. Aber wie auch immer: Egal, ob sich diese Künstler mit ihrem, im Endeffekt umsonst geborenen Werk an einem dieser beiden Qualitäts-Extreme positionieren müssten, oder - wie es wahrscheinlich in den meisten Fällen der Fall ist - irgendwo in der Mitte,- sie haben es nicht geschafft! Hoffentlich nicht in ihren eigenen Augen, aber ganz sicher in den Augen der Menschheit, die ihr Werk ja gar nicht zu Gesicht bekommen hat!
 
Was nützt der Menschheit ein Künstler, dessen Werk sie nicht kennengelernt hat? Was nützt der Menschheit ein Kunstwerk, das sie nicht zu sehen bekommen hat? Es gibt aber einen einzigen winzigen Kritik-Punkt, eine letzte Möglichkeit des Einspruchs, einen Hoffnungsschimmer der tapfer ersehnten Erlösung, der den eben aufgerollten "Fakt" wieder relativieren kann, und zwar so sehr, dass er alles wieder in Frage stellt, das gesamte Wahngebäude aus Bedeutungshoheit und Bedeutungslosigkeit in sich zusammenfallen lässt, und - nachdem der Staub sich verzogen hat - die Welt in ihrer wahren Schönheit zeigt: und zwar, wenn es diesen Künstlern passiv oder aktiv, prä- oder postmortal gelingt, andere Künstler/Menschen durch ihr Werk, ihr Wissen, ihr Wesen, kurz: ihr ERBE - zu inspirieren...
 
Und sei diese Inspiration auch eine bewusst kaum wahrgenommene Erfahrung, eine erst späte realisierte Erinnerung, ein einziger, flüchtiger Moment...
 
Und sei der Inspirierte auch nur ein einzelner Mensch, der diese Erfahrung als Energie für sich nutzen kann, sie kreativ umwandelt oder erst noch behütend weiterträgt...
 
Und seien es womöglich Jahrzehnte, vielleicht sogar kleine Unendlichkeiten, die dieser Akt der Inspiration schlussendlich umspannt...
 
So ist damit jedenfalls alles wieder gut!
 
Und die Möglichkeit dies zu erreichen ist nicht nur den Künstlern, sondern natürlich allen Menschen gegeben,- in jeder Sekunde ihres wie auch immer gearteten Lebens! Und im Gegenzug dazu wird selbst der ruhmbekleckertste Superkünstler am Sterbebett auf seine dann doch recht ängstliche Frage, ob er denn alles richtig gemacht habe, dieselbe bescheuerte Antwort erhalten wie jeder Andere auch (ungefährer Wortlaut: "Komm zu mir, und ich sags Dir!"). Wenn man sich das wirklich klar macht, dann weiß man, was man zu tun hat: Man sollte absolut nie auch nur einen Gedanken daran verschwenden, ob man mit dem, was man macht Anklang finden wird oder nicht,- sondern sich stattdessen einfach nur darauf konzentrieren behutsam seinen innersten Vorstellungen zu folgen... Dabei muss man allerdings akzeptieren, dass diese natürlich immer absolut individuell und sehr persönlich sind, dass sie sich jederzeit weiterentwickeln können und anderen womöglich überhaupt nichts sagen. Ob das Leben, das man sich dann schmiedet, für andere zu einer wirklichen Quelle der Inspiration werden kann,- das ist etwas, worüber der Mensch zum Glück keine Macht hat. Er muss es dem Schicksal überlassen... Aber zur Beruhigung:
 
Es ist alles offen... Jede Ameise trägt ihr Erbe.. Und Du bist frei.
 
HvvH`04/12/12

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